S-Bahn München - Einsatzgebiet der Baureihe 420/421

München

Die Baureihe 420/421: Eine bayerische Symbiose aus Tradition und Moderne in weiß-blau

Die S-Bahn in München
Wie im Leben, so geht es auch bei der S-Bahn mal drunter und drüber. Gerade die Münchener S-Bahn blieb davon nicht verschont. Zumindestens das planmäßige Auf und Ab zwischen der Donnersberger- und Hackerbrücke ist aber so gewollt. Das Kreuzungsbauwerk fädelt die Gleisverbindung vom Münchner Hauptbahnhof elegant in die Stammstrecke in Richtung Westen ein. An diesem Tag im Oktober 2000 war es bereits nur noch mit etwas Glück zu schaffen zwei weiß-blaue 420er in dieser Konstellation so zu erwischen. 3 Jahre später war es schon ein Ding der Unmöglichkeit.

Foto: Dirk Mattner

„50plus“ – Die Münchner S-Bahn: gestern, heute, morgen.

Das Jahr 2022 – wie hatte man sich das wohl im Jahr 1972 vorgestellt? Etwa so: Futuristische Städte mit weißen, schmal verglasten Hochhäusern. Diese Städte hätten Fußgänger- und Grünzonen. Diese wären aber dennoch nicht wirklich „autofrei“, da sich dafür ein Stockwerk tiefer eigene Straßen und Garagenplätze befinden sollten. München war in dem Jahr 1972 dazu die ersten Schritte ja schon gegangen. Das Olympische Dorf sollte den Blick auf das künftige Wohnen im urbanen Umfeld öffnen.
Die Vorstellung zur Gestaltung künftiger Automobile war da schon uneindeutiger: Sie sollten wohl flach und stromlinienförmig den Formen eines Sportwagens folgen – unabhängig welcher Klasse. Es würde wahlweise atom- oder solargetrieben befreit von Stau- und Unfallgefahren durch die Gegend surren. Für die Fernreise würden wiederum Hyperschall-Flugzeuge in Form schmaler, langer Pfeile oder breiter, raumgreifender „Nurflügler“ am Erdinger Moos oder bei Sulzemoos auf ihre Reisenden warten (Münchens Motto: Hauptsache „Moos“! – der stadtnahe Hofoldinger Forst war da schon aus der Wahl ausgeschieden). Und ob der Weltmarktführer PanAm schon den Linienverkehr für die Mondflüge zu den dortigen Stationen aufgenommen haben könnte, war weniger eine Frage des „ob“ sondern des „wann“.

Doch der moderne Münchner sollte ebenso auch im Nahbereich nicht auf die rasche Beförderung durch seine Stadt und das Umland verzichten müssen. Die Schnellbahnen würden im Untergrund die Stadt, wie auch übertage den Ballungsraum bequem und schnell erschließen. Denkbar war natürlich noch die zusätzliche Einrichtung einer Einschienen- oder Magnetbahn, schwebend über den Straßenlandschaften hinweg. Dagegen konnten sich viele der Visionäre eine Trambahn kaum mehr für den Münchner Alltag des Jahres 2022 vorstellen und hätten höchstens einige derer Modelle im Deutschen Museum verortet.

Zu Guter Letzt war auch schon 1972 das „Daheimbleiben“ Dank künftiger Kommunikations- und Automatisierungseinrichtungen im eigenen Haushalt eine durchaus realistische Perspektive: Neben Kugelsessel, ebenso kugeligen Beleuchtungselementen und abgerundeten Acryl-Tischen stünde immer ein großer Bildschirm in der Wohnung eines typischen Münchner Haushalts. Der wäre natürlich nicht nur in Farbe und böte eine bald unbegrenzte Programmauswahl, er würde auch als Bildtelefon und Bildschirm für Textnachrichten genutzt werden können. Das dystopische Szenario einer pandemiebedingten Quarantäne, die den Münchner dazu verdonnern würde über diesen Bildschirm seine Kommunikation, Essensbestellungen und auch die tägliche Büroarbeit abzuwickeln, wollten sich die Visionäre sicherlich nicht ausmalen. Sie hätten jedoch die praktischen Vorteile dieser Einrichtung für so manche Lebenslagen sicherlich auch mit solch einer düsteren Annahme nicht verneint.

Wie der Viktualienmarkt, die Frauenkirche, das Oktoberfest oder ein Münchner Biergarten im Jahre 2022 hätte aussehen sollen, darüber machte man sich ebenfalls eher wenig Gedanken. Man kann aber schwer annehmen, das niemand auf die Beibehaltung und Pflege bekannter und beliebter Institutionen auch in der Zukunft verzichten wollte. Trotz allem Futurismus: München sollte schon als München erkennbar bleiben.

Die bayerische Traditionspflege und die damit verbundene Neigung, liebgewonnene Dinge behalten und pflegen zu wollen, hätten bei einer detaillierten Betrachtung den eisenbahninteressierten Zukunftsforscher im Jahre 1972 die Frage stellen lassen können, ob die Münchner S-Bahn auch im Jahre 2022 noch den Wiedererkennungswert aus den Tagen ihrer Gründung erhalten hätte.

Gute Frage!

Ja, dann schauen wir doch mal. Und siehe da:
Ein Fahrzeug in Form, Charakter und mit unverwechselbaren Sound stünde da wie eh und je!
Allein die rote Farbe würde Fragen aufwerfen: „Haben etwa die Kommunisten gewonnen!?“
Aber nicht doch! Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Zug fährt jetzt – ganz privatisiert – direkt in sein kapitalistisches Glück. Jedenfalls kann der Schein so lange aufrechterhalten werden, wenn man nicht in die Bücher dieser privatisierten Bundesbahn schaut. Was aber wiederum die Farbwahl des ansonsten so vertrauten Fahrzeugs erklären könnte.


Die Münchner Schnellbahn im Jahre 2022 – Fiktion und Wirklichkeit

In der Tat ist der Blick 50 Jahre voraus in die Zukunft eine schwere Übung.
Vieles bleibt im unklaren, selbst wenn man aktuelle Entwicklungen einfach linear weiterzeichnet.

Das dies so in der Regel nicht funktioniert, hat man ausgerechnet im Jubiläumsjahr 2022 bei der Münchner S-Bahn erleben müssen: Ein bereits begonnenes Bauprojekt erweckte – schon alleine durch das fleißige „Handwerk'ln“ im Münchner Westen – den Eindruck es würde in geplanter Zeit und im erwartbaren Kostenrahmen (plus üblichen Zuschlag) zum Ende dieses Jahrzehnts in Betrieb gehen können. Die Rede ist von der künftigem, zweiten Stammstrecke der Münchner S-Bahn.

Seit Jahrzehnten ist sie nun ein Dauerbrenner der Münchner Verkehrspolitik und jetzt wo endlich alles in trockenen Tüchern schien, begann ausgerechnet das Ganze Projekt lichterloh zu brennen: Über 8 Milliarden (das sind neun Nullen hinter der Acht!) EURO und eine weitere Bauzeit von großzügigen 15 Jahren sind jetzt plötzlich angesagt.

Unsere Visionäre aus dem Jahre 1972 konnten sich viele verrückte Sachen für die Zukunft ausmalen, wie z.B. kleine Sprechgeräte an jedem Mann und jeder Frau, zur unbegrenzten Kommunikation ganz ortsunabhängig, immer und überall.
Doch mit Blick auf die Realisierung der recht profanen Idee einer Tunnelstrecke unter der Innenstadt Münchens, wie sodann mit der Stammstrecke zwischen 1966 bis 1971 geschehen, konnte man den logischen Schluss ziehen, das in der künftigen Welt des Jahres 2022 ein solches Bauwerk sicherlich in noch kürzerer Zeit und kaum teurer erbaut werden könnte als seinerzeit.

Man muss gestehen: Dinge werden nicht per se einfacher, selbst wenn man einen stetigen technischen Fortschritt unterstellt.

Eine ähnliche Annahme zur fortlaufenden Entwicklung hätte man aus damaliger Sicht sicherlich auch für die Ausbaupläne des S-Bahnnetzes erwartet. Die Pläne zu den künftigen Ausbaustufen lagen bereits auf dem Tisch: Eigene S-Bahntrassen sollten dort errichtet werden, wo der Mischverkehr bereits zum damaligen Zeitpunkt eine Ausweitung des Taktverkehrs behinderte. Man glaubte mit dieser Entlastung entlang der belebtesten Fernstrecken in Richtung Augsburg, Ingolstadt, Landshut und Salzburg in den 1980er Jahren am Ziel zu sein. Auch die eingleisigen S-Bahnstrecken nach Herrsching, Höhenkirchen-Siegertsbrunn und zwischen Giesing und Deisenhofen sollten in absehbarer Zeit ein zweites Gleis erhalten. Die Integration der Isartalbahn, wie weitere betriebliche Verbesserungen an Abzweigungen, Kreuzungsstellen und Bahnhöfen standen ebenfalls auf der To-Do-Liste.
Das auch hier die Entwicklung nicht stetig und linear lief, ist die heutige Erkenntnis beim Rückblick auf die vergangenen 50 Jahre und dem Blick auf die aktuelle Infrastruktur.
Die Planer dürften seinerzeit bei der Entwicklung ihrer Ausbaupläne möglicherweise die eine oder andere alternative Option schon in Erwägung gezogen haben. Doch letztlich legte man ein Planziel vor, das vom damaligen Standpunkt betrieblich am sinnvollsten, wirtschaftlich realistisch und auch finanzierbar erschien. Über etwaige Planänderungen würde man sich da in der Rückschau am wenigsten wundern. Das man aber so weit hinter den damaligen Ausbauzielen geblieben ist, aber schon eher.

Das dagegen im Jahr 2022 im Münchner Schnellbahnsystem noch Triebfahrzeuge, entsprungen der Generation aus der Gründerzeit sowohl bei S- wie auch bei U-Bahn gelegentlich anzutreffen wären, könnten die Visionäre des Jahres 1972 als Lob der technischen Leistungen ihrer Zeit verstehen. Und das wohl zurecht!

Das bei der Münchner U-Bahn die A-Wagen und bei der S-Bahn die Baureihe 420 auch im Jubiläumsjahr 2022 noch ihre Dienste verrichten, dürfte selbst aus der Perspektive des Jahres 1972 keine Selbstverständlichkeit gewesen sein. Eisenbahnfahrzeuge wurden damals zwar langlebiger konstruiert, da man im Hinblick der Nutzungsdauer grundsätzlicher länger mit ihnen rechnete. Doch so etwas war auch damals nicht automatisch abgemacht. So verabschiedete sich die Bundesbahn auch damals schon von so mancher Entwicklung und Baureihe vorzeitig, wenn sich offensichtliche Schwächen zeigten.

Die Baureihe 420 könnte man aus damaliger Sicht – ganz grob betrachtet – als einen „Schnellschuss“ betrachten: Es gab zwar viele Pläne, Modelle und bereits im Einsatz befindliche Elektrotriebzüge, aus denen man Erkenntnisse zur Konzeption, Herstellung und Verwendbarkeit eines künftigen Triebzuges ziehen konnte. Doch zum einen benötigte die Entwicklung und Erprobung neuer Fahrzeuge auf Basis konventioneller Technologien und Verfahren eine geraume Zeit. Zum anderen würde diese sich eher noch verlängern und die Umstände verkomplizieren, wollte man sich zusätzlich an neuen, innovativen Lösungsansätzen versuchen über deren erfolgreiche Entwicklung und Anwendung keineswegs eindeutige Klarheit herrschen konnte. Der Ansatz war also in Anbetracht knapp gesetzter Termine schon etwas riskant.


Ein kleiner Schritt zur nächsten Fahrzeuggeneration der zum großem Sprung wurde

Doch genau dieses Wagnis des Technologiesprungs wollte man mit der Baureihe 420, sprich dem Projekt „ET20“, Mitte der 1960er eingehen. Und das bei einer – zwangsweisen – verkürzten Entwicklungs- und Erprobungszeit, denn bald stand ein neuer, vorgezogener Termin zur Inbetriebnahme im Raum: Der Sommer 1972 – Zeit für die Olympischen Spiele in München!

Die Elektro- und Fahrzeugindustrie haben zusammen mit der Bundesbahn bei der Entwicklung der Baureihe 420 eine wahre olympische Leistung vollbracht. Das man im August 1972 tatsächlich mit 120 Fahrzeugen eines gerade erst in Dienst gestellten und zuvor nur kurz getesteten Fahrzeugtyps an den Start gehen konnte (ohne dass dieser abgebrochen werden musste) ist damals wie heute ein bemerkenswerte Leistung. Das die Bundesbahn für die zwei Wochen der Sommerspiele insgesamt einen enormen Aufwand an Mensch und Material betrieb, hat natürlich einen nicht unerheblichen Anteil an der Erfolgsgeschichte. Bei näherer Betrachtung gab es durchaus Herausforderungen mit den neuen, erst seit wenigen Monaten im Betrieb befindlichen S-Bahnzügen, die sich allmählich einspielten und nun vor ihrem ersten großen Stresstest standen.
Das in vielen Belangen und Eigenschaften völlig neu konzipierte Fahrzeug bedurfte eigentlich einiger Zeit der Eingewöhnung beim Personal am Zug und im Werk. Diese Zeit war aber angesichts der laufenden Auslieferung noch fehlender Fahrzeuge bis kurz zur Entzündung des Olympischen Feuers vor der Kulisse von Zeltdach und Fernsehturm außerordentlich knapp.

Rechtzeitig zum Vorlaufbetrieb im Münchner Stammstreckentunnel kam 420 571-2 im April 1972 an den Start

Die Feuerprobe von Fahrzeug und Infrastruktur der Münchner S-Bahn in diesen zwei olympischen Wochen begründeten einen Mythos und eine Strahlkraft, die Sachverständige aus Nah und Fern nach München lockte: Was war das Geheimnis dieses Erfolges?
Die elektronisch über Thyristoren gesteuerten Triebzüge mit beachtlichen Leistungskennzahlen? Die Konzeption einer leistungsfähigen Strecke im Zulauf auf die Innenstadt und unter dieser hindurch? Der Einsatz modernster Signal- und Leittechnik, die aus dem Zusammenspiel zwischen Fahrzeug und Stammstrecke das betriebliche Optimum versprach?
Die Besucher anderer Verkehrsbetriebe, Bahnen und Planungsbüros kamen, staunten und notierten. Nicht wenige kauften bei der hiesigen Industrie auch ein. Konzepte wurden adaptiert. Es wurden Chancen, Risiken und Kosten ermittelt. München galt als Vorbild vieler Schnellbahnsysteme, die in der Folgezeit entwickelt wurden. München war bei der Bundesbahn und den Verkehrspolitikern in Deutschland der Treibsatz zur Verwirklichung bereits parallel geplanter Projekte in anderen Städten und Regionen. Hinzu kam das konzeptionelle Zusammenspiel aus S- und U-Bahn, das zur Abdeckung von Verkehrsbedürfnissen in Stadt und Umland diente und München einen Vorbildcharakter verlieh, der für vergleichbare Ansätze anderswo im Land, in Europa oder gar der Welt warb.

Wer im Jahr 1972 fasziniert vor all diesen Errungenschaften und neuen Erkenntnissen stand, wird in jeder daraus abgeleiteten Vision für die Zukunft eine Beschleunigung und Skalierung der Entwicklungen gewagt haben zu prophezeien.
Heute wissen wir: Ganz so linear, bzw. gar exponentiell verlaufen solche Entwicklungen nicht zwangsläufig. Überraschungen liegen immer auf dem Weg. Wer hatte z.B. damals etwa eine „Ölkrise“ nur ein Jahr später erwartet? Und wer kann im Gegenzug nach dieser Erfahrung eigentlich im Jahr 2022 über eine plötzliche „Energiekrise“ überrascht sein?

Für das Konzept eines ressourcenschonenden Nahverkehrssystems hätte es eigentlich sogar noch einen zusätzlichen Aufschwung geben müssen. Das passende Fahrzeug, das auch an „Autofreien Sonntagen“ unterwegs war, stand ja nun bereit.
Die Baureihe 420 wurde für sich zwar ein Erfolgsmodell das letztlich bis ins Jahr 1997 in insgesamt 480 Fahrzeugeinheiten ausgeliefert wurde, doch eine etwaige „Skalierung“ in Richtung eines Nah-, Eil- oder gar Fernreisezugs kam trotz der Vorteile seiner Elektromobilität damals doch nicht zustande. Obwohl – Stop! – das stimmt nicht ganz: Immerhin gab es mit der Entwicklung und dem Einsatz der Baureihe 403/404 („Entenschnabel“) doch noch einen solchen Ansatz, der aber bekanntlich bei der Kleinserie verharrte, die später noch als „Lufthansa Airport-Express“ von sich reden machen sollte. Indes verliefen die verschlungen Wege in die Zukunft dann doch in andere Richtungen. So ließ die Bundesbahn schon bald nach der Entwicklung von ET420 und ET403 von einer betrieblichen Ausweitung des Triebzugkonzepts ab und wandte sich verstärkt der Lokomotive als kompaktes „Triebmodul“ neuer Wagenzüge zu. Eine Entwicklung die Anfang der 1990er Jahre in Produktion und Einsatz der ersten ICE-Generation ihren Höhepunkt fand.


Der Verkehrs- und Tarifverbund, der die Sache „Rund“ macht

Neben vielen konzeptionellen und technischen Innovationen, die quasi über Nacht den Münchnern ab 1972 in die Hand gelegt wurden, wollte noch eine organisatorische Frage geklärt werden: Wie verkaufen wir dem potentiellen Fahrgast am besten das Produkt?
Das Auto als direkte Konkurrenz bot da nicht nur umsteigefreie Direktverbindungen von Haustür zur Haustür, es wurde zu seiner Nutzung lediglich auch ein „Tarif“ aufgerufen: Und zwar in Form des Spritpreises an der Tankstelle.

Während man mit der engen Verknüpfung von S- und U-Bahn durch Gemeinschaftsbauwerke unter der Münchner Innenstadt die Beschwernis des Umstiegs möglichst erleichtern wollte, blieb die Frage des Tarifs zunächst ungeklärt. Das Konzept des im Jahr 1965 gegründeten Hamburger Verkehrsverbunds gab aber dann die Antwort: „Ein Netz – ein Tarif“.

Mit dem Erwerb von nur einer Fahrkarte sollte dem Fahrgast nicht nur eine Erleichterung, sondern sogar eine preisliche Entlastung zugestanden werden. Die Preise des neuen Tarifwerks fielen zu den vergleichbaren Streckenkilometern bei der Bundesbahn zumeist günstiger aus, und er blieb weit unter dem Gesamtpreis für jeweils einzeln zu entrichtende Fahrscheine bei Teilstrecken in Zug, Tram oder Bus.

Die Gründung des MVV als „Münchner Verkehrs- und Tarifverbund“ war der konsequente Schritt zur weiteren Erhöhung der Attraktivität des ÖPNV in Stadt und Land.

Betrachtet man die Maßnahmen und Diskussionen des Jahres 2022 bei der Einführung eines sensationell günstigen Tarifangebots, so erkennt man im Detail den Unterschied zwischen der damaligen „ganzheitlichen“ Betrachtung aus Modernisierung, Beschleunigung, Kapazitäts- und Angebotsausweitung, sowie einem passenden Tarif für das Gesamtpaket. Die Kritik am 9-EURO-Ticket allein wegen seines niedrigen Preises mag durchaus fragwürdig sein, wenn doch neben der finanziellen Entlastung der bestehenden Nutzer auch die Anwerbung neuer Kunden das Ziel war. Die Kritik am fehlenden Ausbau von Infrastruktur, Kapazität und Angebot ist hingegen mehr als berechtigt. Wo ist das ganzheitliche Denken des Jahres 1972 geblieben?

Das der MVV im Juni 1972 – zeitgleich mit der Eröffnung der Münchner S-Bahn – als neues Angebot für die meisten Fahrgäste ein Segen war, dürfte unbestritten sein. Er ist jedoch im Detail auch Fluch geblieben. Denn mit dem Versuch eines gerechten Tarifsystems und dem Ansatz der Rationalisierung der Vertriebswege mittels Fahrkartenautomaten, stand der Münchner Fahrgast vor neuen Herausforderungen: Er selbst war ab nun verpflichtet, den richtigen Fahrschein zum passenden Anlass sich selbst auszustellen. Er musste von nun an Zonen zählen, Streifenkarten knicken und sich vor Antritt der Fahrt selbstständig zur Beförderung legitimieren. Fehlende Bahnsteigsperren und immer weniger Schaffner mögen zwar einige Fahrgäste zum kreativen Sparen eingeladen zu haben, doch wer reinen Gewissens glaubte alles richtig gemacht zu haben war dennoch nicht vor Strafe gefeit.

Das Ärgernis des „Tarif-Sudoko“ mit gelegentlichen Härtefällen an Tarifgrenzen und Übergängen begleitet den MVV seit seiner ersten Stunde. Der Verkehrsverbund versuchte sich in umfangreicher Aufklärungsarbeit in Wort und Bild. Letzteres war für eine Weltstadt mit Herz besonders von Nöten um als Gastgeber für Besucher aus fernen Länder nicht zum unangenehmen „Fahrpreis-Nacherheber“ zu werden, nur weil der Gast sich in den Streifen, Kreisen und Linien der Netzpläne verloren hatte. Einfache Bildsprache, Piktogramme und Farbfelder sollten nun – auch nonverbal – den Fahrgast sicher zum legalen Erwerb seiner Fahrtberechtigung führen.

MVV - Verbundfahren in München (1986)

Der kreisrunde Zonenplan mit seinen radialen Aufteilungen und Farbflächen wurde zum ikonischen Bild des Verbundtarifs. Daneben erschienen auf Fahrzeugen und im Stadtbild immer öfters ein weißes „K“ auf grünen Rechteck und ein schwarzes „E“ auf einem ebensolchen in Gelb. Das kleine, weiße „i“ auf der runden, schwarze Scheibe sollte als Rettungsanker jedes desorientierten Fahrgastes dienen. Am Info-Punkt, zumeist in Form von Vitrinen, finden sich Aushänge zu Standort, Streckennetz, Fahrplan und Tarif.

Die Planer und Visionäre des Jahres 1972 konnten sich zwar allerlei technischen Schnick-Schnack vorstellen, das dem Münchner der Zukunft den Erwerb und die Verwendung eines passenden Fahrscheins erleichtern könnte, doch eine wegeabhängige Erfassung des Fahrpreises bei gleichzeitiger bargeldloser Abbuchung desselben – soweit konnte man sich die praktische Umsetzung nicht vorstellen. Man unterstellte stattdessen dem MVV-Nutzer ein gewisses Bildungsniveau, das ihn befähigen sollte seinen „Tarifabschluss“ mittels Heimstudium anhand diverser Infobroschüren und Druckerzeugnissen erwerben zu können.

Eines dieser Druckerzeugnisse war der „Verbundfahrplan“, der halbjährlich, später dann als Jahresfahrplan erschien. Das kleine Büchlein im Querformat wurde zur Pflichtlektüre und Auslage jedes halbwegs geordneten Münchner Haushalts. Zumeist lag es irgendwo griffbereit im Schubfach.
Wer sich der Lektüre hingab, der erhielt Kapitelweise das Fahrtenangebot von S-, U-, Trambahn und Bus dargeboten. Unzählige weitere, nützliche Informationen ließen sich entnehmen, wie die Abfahrtszeiten aller Züge ab München Hauptbahnhof, oder eben auch das zusammengefasste Werk zu allen Fragen Rund um die komplexe Tarifstruktur des MVV.

So gut ausgestattet mit allen Informationen zu Bus und Bahn, konnte die Reise durch das MVV-Universum angetreten werden: Vom Bus zu U-Bahn, von der Tram zum Bus, von der Tram zur S-Bahn, usw.
Neben den üblichen Pendelfahrten von und zur Arbeitsstätte, eröffneten sich dem mit Streifen- oder Zeitkarten ausgestatteten Münchner auch neue Wege zu Ausflügen in andere Winkel der Stadt oder hinaus auf das Land – z.B. zum nahen Ammersee (S5) oder dem Starnberger See (S6). Dem MVV fiel diese neue Freiheit seiner Kunden schon früh auf und er ermutigte sie durch die Ausgabe eines kleinen Wanderbüchleins zu Ausflügen entlang der S-Bahnlinien, hinaus ins schöne Umland.


Image ist alles? Produktversprechen zwischen Dichtung und Wahrheit

Trotz mancher Missverständnisse und Frotzeleien: Die Münchner sind mit ihrem MVV schnell warmgeworden. Und so bot der MVV als zweiter Verbund nach dem HVV ein positives Bild zur optimalen Organisation eines modernen öffentlichen Nahverkehrs, was ihn zum Vorzeige- und Vorbildprojekt vieler weiterer Verkehrsverbünde in Nah und Fern werden ließ. Doch auch hier sind manche Neugründungen im Vergleich zum Vorbild Münchens hinter den Erwartungen zurückgeblieben, einfach weil wiederum der ganzheitliche Ansatz mit Infrastruktur, Angebot und Qualität nicht ausreichend berücksichtigt wurde.
Getrieben durch die erfolgreiche Entwicklung des S-Bahnverkehrs im Umland, erweiterte der MVV auch recht bald in vielen ländlichen Gemeinden das Angebot der Buszubringer. Diese Entwicklung eines attraktiven Verbundangebots steht im krassen Gegensatz zu so mancher Bushaltestelle in Deutschland, die zwar im Design des jeweiligen Verkehrsverbundes leuchtet, auf dem Fahrplan jedoch gähnende Leere präsentiert.

Gleiches gilt bei der Produktpflege von legendären Markennamen des ÖPNV. Das München nach Berlin und Hamburg ab 1971 ebenfalls eine U-Bahn erhielt, sorgte schon für großes Aufsehen: Viele Städte in Westdeutschland strebten zu dieser Zeit ähnliche Projekte an. Das weiße U auf dem blauen Quadrat versprach „weltstädtischen“ Flair, schnelle, kreuzungsfreie Verbindungen quer durch die Stadt. Alles was man seinerzeit unter die Erde bringen konnte (auch Garagen oder Schnellstraßen, ja selbst Einkaufszentren) galt als modern. Was die saubere Definition einer U-Bahn betrifft, immerhin ein Verkehrsmittel das im Jahre 1972 sein 70 jähriges Jubiläum in Deutschland feiern konnte, so rückte nach München nur noch Nürnberg in den Kreis dieser erlesenen Großstädte auf.

So verlockend die Einrichtung einer vollwertigen U-Bahn für Großstädte wie Köln, Frankfurt oder Stuttgart erschienen, beim Blick in den Geldbeutel war man dann doch gewillt bei den Plänen viele Abstriche vorzunehmen und Kompromisse einzugehen. Auf eines wollte man aber partout nicht verzichten: Auf den Markennamen „U-Bahn“.

Unter den gestrengen Blicken mancher Verkehrsplaner und Beamten, durfte dann die Ergänzung „Stadtbahn“ nicht fehlen. Immerhin: Solche „U“-Bahnen wie z.B. in Hannover, Bielefeld, Duisburg, Ludwigshafen und anderswo verkehren tatsächlich innerstädtisch unter Tage und halten in diversen Untergrundbahnhöfen, ausgestattet mit allen Annehmlichkeiten zur Beförderung zwischen Unter- und Oberwelt. Die Metamorphose zur Trambahn ist allerdings nur wenige Stationen entfernt und ist spätestens am Stadtrand vollständig vollzogen.

Im Vergleich dazu hat es das Markenzeichen „S-Bahn“ in den 50 Jahren seit 1972 fast noch schwerer getroffen: Erst durch die Erfolgsgeschichte der Münchner S-Bahn wurden in immer größeren Teilen des Landes Begehrlichkeiten geweckt, sich dieses Namens zu bedienen. Doch bei der „Produktpflege“ wollte man es dabei dann doch nicht so genau nehmen. Die Münchner S-Bahn war im Jahr 1972 im Vergleich zu den damals bereits existierenden S-Bahnsystemen das erste „Role Model“ eines im Bestandsnetz der Eisenbahn integriertes Verkehrssystems, das jedoch bedarfsweise an passender Stelle aus eingefahrenen Wegen ausschert (um z.B. ein Stadtzentrum unterirdisch zu unterqueren).

Im Gegensatz zu den bis dahin bekannten „Schnellbahnen“ im städtisch-urbanen Raum, reichten die Linien der Münchner S-Bahn von Beginn an weit in das ländliche Umland hinaus. Das bislang nur in verdichteten Siedlungsräumen und in den städtischen Zentren bekannte weiße „S“ auf grüner Kreisfläche, prangte nun plötzlich auch an beschaulichen Dorfbahnhöfen im Voralpenland. Waren die S-Bahnen in Berlin, Hamburg und im Ruhrgebiet quasi „Kulturfolger“ in die bereits entwickelte Siedlungsräume, wurde das Prinzip in München umgekehrt: Erst kam die S-Bahn, dann folgte die Urbanisierung!

Das Münchner S-Bahnetz zum Start 1972

Wo im Jahre 1972 noch 420er Kurzzüge im 40-Minuten-Takt an Dörfern und Ortschaften mit wenigen hunderten Einwohnern hielten, muss heute die S-Bahn zur Hauptverkehrszeit im 10-Minuten-Takt die große Zahl der hinzugezogenen „Neubürger“ großer Siedlungsflächen abholen. Sitzplatz im Langzug? Nicht garantiert.

Die S-Bahn ist, wie die gesamte Urbanisierung des ländlichen Raums um München, Fluch und Segen zugleich. München ist über die vielen Jahrzehnte seit Ende des 2. Weltkrieges konstant die „Boomtown“ Deutschlands geblieben. Während andere Regionen wirtschaftliche Krisen meistern mussten, andere Gegenden sich mit einer massiven Abwanderung und Überalterung konfrontiert sehen, kennt die Region München nur den stetigen Zuwachs und Aufschwung. Handel und Industrie, Forschung und Entwicklung, Dienstleistung und Fremdenverkehr – das sind alles Treiber der Münchner Erfolgsgeschichte. Auf der anderen Seite stehen diesem eine kontinuierliche Zersiedelung und Verdichtung noch freier Räume gegenüber. Dies alles bedarf eines fortlaufenden Ausbaus der Infrastruktur, die im Raum München in den vergangenen 50 Jahren zumeist durch neue Schnellstraßen und dem Ausbau der S-Bahn gekennzeichnet waren. Die Betonierung und Versiegelung des in vielen Fällen weiterhin (noch) attraktiven Umlands scheint kein Ende finden zu wollen. Im Gegenteil: Diese Entwicklung wandert schon längst weit über die grob gesteckte 40-Kilometer-Grenze hinaus. Also auch dort, wo die S-Bahn nicht hinfährt.

Pendler aus dem ferneren ländlichen Raum bedienen sich im Jahre 2022 nun der zahlreichen Autobahnen, den vielen Regionalzügen oder dem nächstgelegenen S-Bahnhof in der Peripherie. So findet man heutzutage z.B. selbst an Wegweisern an der B17 in Lager Lechfeld (20 Kilometer nahe Augsburg!) das bekannte S-Bahn-Logo mit dem Hinweis zum P+R in Geltendorf.

Die Erfolgsbilanz der Münchner S-Bahn mit ihren enormen Verkehrs- und Fahrgaststeigerungen, ihrer Funktion als Bindeglied zwischen Stadt und Land, die Verbindung zwischen Arbeiten und Wohnen, sowie als Motor für Wertsteigerungen bei Immobilien und für den wirtschaftlichen Aufschwung einstmals verarmter Bauerndörfer: Das alles hat die Begehrlichkeiten am Markenzeichen „S-Bahn“ über die Jahre in ganz Deutschland (und darüber hinaus) massiv erhöht.
So bemüht sich jeder Lokalpolitiker selbst in entlegensten Gegenden Deutschlands heute um einen „S-Bahnanschluss“ (wenn es der ICE-Anschluss schon nicht sein darf).
Eine Verwässerung des einstigen Qualitätsbegriffs „S-Bahn“ ist nun schon seit Jahrzehnten im Lande zu beobachten. Heute rühmen sich so manche Städte und Gemeinden in Deutschland einer S-Bahnanbindung, obwohl doch die nächste Großstadt weit über 100 Kilometer entfernt liegt und die neue „Schnell“bahn bis zu zwei Stunden zu ihrem Ziel (?) benötigt.

Die Verwässerung des Markenprodukts S-Bahn ist längst in vielen Teilen Deutschlands zum Etikettenschwindel verkommen. Was soll die besondere Attraktivität, das Alleinstellungs- und Qualitätsmerkmal dieser sogenannten S-Bahnen sein?
Sie bieten oftmals Taktverkehre nicht unter einer Stunde und es werden gewöhnliche Regionalzuggarnituren verwendet (oftmals mit geringer Barrierefreiheit, aber immerhin mit WC). Die Laufwege dieser S-Bahnlinien sind extrem lang und gehen weit über die äußeren Grenzen der Ballungsräume hinaus.
Das alles hat mit dem Erfolgsmodell S-Bahn, so wie man es in München kennt, nicht mehr viel zu tun. Allein der Name soll das Image aufpolieren, das dann in ungünstigen Fällen durch versäumte Investitionen und nicht eingehaltene Mindestanforderungen auch noch mit ausfall- und verspätungsanfälligen Dauerschlechtleistungen den Namen ruiniert. Das hat „die“ S-Bahn nicht verdient. Geschweige ihre Nutzer!


Die S-Bahn – der Anzug, der in 50 Jahren für München eng geworden ist.

Das Image der S-Bahnen ist nicht nur in halbherzig realisierten Regionalnetzen gefährdet, auch in München droht die S-Bahn von ihrem eigenen Erfolg der vergangenen Jahrzehnte überrollt zu werden. Das aktuelle Stichwort in aller Munde: Die 2. Stammstrecke und das ewige Warten auf eine mögliche Entlastung des angespannten Systems. Sollte nun tatsächlich der Termin auf das Jahr 2037 vertagt werden, steht München vor einem gewaltigen Dilemma. Denn die Fahrgastzuwächse und Nachfragesteigerungen werden jetzt wahrscheinlich keine 15 jährige Pause einlegen!

Die bereits seit über 20 Jahren angespannte Situation im Münchner S-Bahnnetz erfährt nur schrittweise und in zu geringen Maßen Abhilfe. Eine Verheißung zu Kapazitätssteigerungen versprach die Rückkehr des LZB-Betriebs auf der Stammstrecke zum Ende des Jahres 2004. Gerade mal 23 Jahre zuvor hatte man diese Technik dort abgebaut, da sich die damalige LZB als störanfällig und nur bedingt leistungssteigernd erwiesen hatte. Der Linienleiter in der Mitte des Gleises, bzw. dessen Aufnahmeklammern zeugten noch viele Jahre nach Beendigung des LZB-Betriebs von der einstigen technischen Innovation.
Schon in den 1990er Jahren war der Leidensdruck so groß, das man zur Steigerung der Streckenkapazität sich wieder an diese Leittechnik heranwagte. Dank neuer Software und Konzeptionierung der Blöcke sollte mit der Einführung der Baureihe 423 im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in München endlich wieder eine Entspannung durch Leistungssteigerung und Verdichtung eintreten.
Diese stellte sich – wenn überhaupt – ab 2005 nur für kurze Zeit ein. Die stetige Erhöhung der Nachfrage fraß schnell die neugewonnenen Kapazitäten mit über 230 Einheiten ET423 und der Einführung des 10-Minuten-Takts auf nachfragestarken Linien wieder auf. Die Realisierung einer zweiten Stammstrecke hätte zu diesem Zeitpunkt bereits laufen müssen. Diskutiert und verhandelt wurde darum schon lange genug. Dennoch sollte es bald nochmal 10 Jahre dauern, bis die Bautätigkeiten in Schwung kamen. Sie sind – wie wir heute wissen – leider kein Garant für eine schnelle Realisierung der zweiten Röhre.

Beinahe schon vergessen ist die gut 10 jährige Abstinenz der Baureihe 420 in München von Ende 2004 bis Ende 2014. Eigentlich sollte es ein „Abschied für immer“ werden, als am 4. Dezember der Alt-OB und Gründervater des Münchner Schnellbahnsystems, Hans-Jochen Vogel, die Kelle für die letzte Ausfahrt des 420 001 aus dem Ostbahnhof hinein in den Stammstreckentunnel hob. Nach dieser Sonderfahrt blieb der erste aller 420er in München in der Funktion als Museumszug beheimatet und erkundete in den Folgejahren so manche Strecken und Ziele, die einstmals kein reguläres Ziel eines solchen Fahrzeugs waren.

Der Dornröschenschlaf endete, als die Verantwortlichen aus Politik und Management erkennen mussten, dass das Tischtuch zu kurz geworden war: Es mussten weitere Fahrzeuge beschafft werden, die es am Markt nicht mehr zu erwerben gab. Notgedrungen und teilweise widerwillig griffen die Strategen auf das altbewährte Modell zurück – jetzt aber mit einem geringeren Durchschnittsalter: Die Baureihe 420 aus dem Bestand der S-Bahn Stuttgart.
Die hatte nämlich noch eine ganz ordentliche Zahl dieser Triebzüge aus der letzten Serie der Jahre 1993 bis 1997 im Bestand, wollte diese aber alsbald gegen Fahrzeuge der neuen Baureihe 430 austauschen. Wer weiß? Hätte man damals im Jahr 2012 den Verantwortlichen bei der BEG und der DB das Szenario einer frühestmöglichen Eröffnung der 2. Stammstrecke zum Jahr 2037 genannt – vielleicht hätten sie sich an den Bestellungen der ET430 für Stuttgart und Frankfurt drangehangen?

Die Rückkehr der Baureihe 420 nach München war eine logische Konsequenz und hätte unter der Annahme einer gewissen Affinität – auch in technischen Belangen – zu dem Fahrzeug doch noch wesentlich besser laufen müssen. So tastete man sich allerdings etwas zu zögerlich und mit gewissen Vorbehalten an den „neuen Alten“ wieder heran. Mit 15 Einheiten kam der ET420 im Jahre 2015 in München wieder ins Rollen. Zuweilen aber auch nicht – dann wenn Ersatzteile, Wartungsfenster oder fahrberechtigte Personale fehlten. Bedienungsfehler, die man so in der einstigen 420er-Hochburg nicht erwartet hätte, setzten den einen oder anderen – oder manchmal gleich alle – Einheiten „Schach Matt“.

Erst allmählich spielte sich der Betrieb wieder ein, wurde öfters wieder fachmännisch Hand an das Fahrzeug gelegt. Die betriebliche Achterbahnfahrt aus Wartungsstau und Entspannung, Störung und Wartung ist in wechselnden Amplituden aber bis heute geblieben – allerdings gilt das nun für den Gesamtbestand aller 274 Fahrzeuge der Münchner S-Bahn.


Was wagen die Visionäre aus dem Jahr 2022 zu erwarten?

Wenn man sich eingangs die Frage stellte, wie und was sich die Planer und Visionäre des Jahres 1972 so für das Jahr 2022 vorstellen konnten, darf man zuletzt auf die Aussicht auf das Jahr 2072 nicht verzichten!

Kommt sie doch noch, die Magnetschwebebahn?

Im Jahr 2007 stand München tatsächlich kurz davor. Geblieben sind davon große, teure und ausgeträumte Pläne. Und nicht zu vergessen: Eine legendäre Rede, die ihren Platz neben der Erzählung des Engel Aloisius als „Münchner im Himmel“ und dem berühmten „Wagen der Linie 8“ vom Weiss Ferdl seinen Platz gefunden hat.

So hoch wie Einschienenbahnen vor 50 Jahren gehandelt wurden, wird heute über die künftige Versendung der Reisenden per Rohrpost sinniert. Da versprachen die damaligen futuristischen Modelle doch eine eindeutig schönere Aussicht, als die heutige Vision mittels „Patrone“ durch eine Unterdruckkammer geschossen zu werden.

Der etwas realistischere Blick bis zum Jahr 2037 ist dagegen wegen der beschriebenen Verzögerungen auch eher ernüchternd. Für die kommenden Jahre möchte man aber immerhin konkret eine neue Fahrzeuggeneration entwickeln. Sie wird sich von der Kapazität her die höchstmögliche Ausbeute unter den gegebenen Voraussetzungen zum Ziel setzen. Statt Kurz-, Voll- oder Langzüge, kann dann auch ein 200 Meter langer, durchgängiger S-Bahnzug das Mittel der Wahl sein. Für den Pendelbetrieb im stadtnahen Bereich wird man froh sein, wenn man auf das Mitschleppen von bis zu vier ungenutzten Führerständen verzichtet und diesen Raumgewinn den zahlreichen Fahrgästen zugutekommen lassen kann. Der unteilbare Langzug wird dagegen kaum eine Aufgabe auf der durchgängigen S7 zwischen Wolfratshausen und Kreuzstraße finden können. Auf dem Abschnitt Höllriegelskreuth – Ostbahnhof (und vielleicht sogar bis Höhenkirchen?) aber sehr wohl.

Kapazität ist bei der S-Bahn München das Gebot der Stunde. Das galt spätestens seit Anfang der 1980er Jahre, als schon die Bundesbahn begann so viele Triebzüge wie möglich am Ort zusammenzuziehen. Es folgte 10 Jahre später der betriebsintensive Einsatz der Flughafenzüge als „Munich Airport Express“ und ging nahtlos in den weiteren Aufwuchs von 420er-Einheiten bis zu einer Gesamtzahl von 210 Fahrzeugen weiter. Sodann folgte der Generationswechsel nach der Jahrtausendwende und heute stehen wir da, wo wir eben stehen: Vor der Verkehrswende. Wenn sie denn von der Politik auch ernsthaft gewollt sein sollte.
Wir werden sehen.

Wenn dann dereinst doch noch die 2. Stammstrecke in Betrieb gehen sollte, wird das Gesamtnetz der Münchner S-Bahn nochmals umgekrempelt. Der Ersatz des 10-Minuten- durch einen 15-Minuten-Takt wirkt auf den ersten Blick dabei verstörend, klärt sich aber mit der Konzeption von Linienbündelungen auch auf Außenstrecken. Womit sich daraus auch 7,5-Minuten-Takte auf diesen Achsen ergeben könnten.

Das Modell der „Express-S-Bahn“ wird ebenfalls seit einiger Zeit beim Blick in die Zukunft bemüht: Sie sollen im Innenstadtbereich die neue, tieferliegende Röhre befahren, die mit weniger Stationen ohnehin schneller durchquert werden dürfte. An den Verknüpfungs- und Verzweigungspunkten der beiden Stammstrecken, in Ost und West, sollen bahnsteiggleiche Anschlüsse und Korrespondenzen ermöglicht werden.

Die in der Anfangszeit der Planungen zur 2. Stammstrecke geführten Diskussionen um Alternativtrassen sind zwar insoweit verstummt, da nun mit dem Bau des neuen Tunnels Fakten geschaffen werden. Da aber – wie beschrieben – der Zeithorizont zur Verwirklichung dieser Maßnahme so weit in die Zukunft verlegt wurde, ist jetzt schon absehbar das zum Betriebsstart im Jahr 2037(plus X) auch diese Kapazitätserweiterung nicht mehr ausreichend sein wird. Bereits jetzt beginnt man sich ernsthaft Gedanken über weitere Linienführungen in und um München zu machen. Hoch im Kurs steht da zum Beispiel die Erschließung des gewerblich stark geprägten Nordens der Stadt. Die Entlastung der Mitte wird über kurz oder lang (in München eher „lang“) nicht ohne eine attraktive Umfahrungsmöglichkeit auskommen. Was für das Auto auf dem Mittleren Ring seit Jahrzehnten gilt, wird in Zukunft auch für die S-Bahn gelten. Die bislang in München streng gepflegte Aufgabenteilung zwischen S- und U-Bahn, was die Erschließung des städtischen Raums betrifft, wird dabei eine gewisse Neujustierung erfahren. Während die U-Bahn nur noch begrenzt weiter in das Umland expandieren kann, könnte der S-Bahn auf innerstädtischen Tangenten eine neue Aufgabe zufallen. Durch die weitere Verdichtung des zentralen Siedlungsraums Münchens und der stadtnahen Großgemeinden, könnte die S-Bahn in dieser Kernzone künftig auch den traditionellen Aufgaben der klassischen städtischen Schnellbahnen in Berlin und Hamburg folgen.

Als weiteres Modell steht die „Regio-S-Bahn“ zur Diskussion, die im Gegensatz dazu den Raum um München nochmals erweitern soll: Von Buchloe bis Mühldorf. Von Landshut bis Rosenheim.
Auch diese Züge wären wieder ein Fall für die neue Stammstreckenröhre in den tiefen Münchens, weit unterhalb der Innenstadt. Die ursprüngliche Annahme, die zweite Stammstrecke sollte zur Verdopplung der Kapazitäten des klassischen S-Bahnsystems dienen, findet sich in den konkreten Planungen so nicht mehr. Insofern ist die Vorhersage, das die 1. Stammstrecke selbst noch im Jahr 2072 zu ihrem 100-jährigen Jubiläum die größere Last bei der Bewältigung des urbanen S-Bahnverkehrs bewältigen wird, keinesfalls utopisch.

Der 2. Stammstrecke wurden zur finalen Planungsphase noch weitere Aufgaben zugesprochen, die nur noch bedingt der Kernaufgabe des urbanen Nahverkehrs – sprich: der S-Bahn – entspricht. Die sogenannte „Nutzen-Kosten-Untersuchung“ – kurz: NKU – erfordert als Ergebnis einen Index-Wert, der die umfangreiche Investition rechtfertigt. Da die Planer sich nicht mehr sicher waren ob sie diesen Wert auf Grundlage eines reinen S-Bahnkonzepts noch erreichen könnten, wurden weitere Verkehrsleistungen hineingerechnet. Dies geschah auch auf Wunsch vieler Politiker, die sich durch die Einbindung von Regional-Express-Linien aus dem südbayerischen Raum eine Attraktivitätssteigerung auch für Städte und Gemeinden erhoffen, die relativ fern der Landeshauptstadt liegen. Inwiefern die „hineingerechneten“ RE-Leistungen später tatsächlich zum Zug kommen können, wird der reale Bedarf an Trassen für die S-Bahn bestimmen. Einen vergleichbaren Fall einer solchen „NKU-Optimierung“ erlebte seinerzeit der „Citytunnel Leipzig“ der ursprünglich allein dem S-Bahnverkehr dienen sollte. Die Planer rechneten in das teure Projekt allerhand überregionale Verbindungen mit hinein, letztlich sogar Leistungen des Fernverkehrs. Tatsächlich durchfuhr – quasi pro forma – für wenige Fahrplanperioden ein IC- und ein ICE-Zugpaar die Tunnelstrecke unter der Leipziger Innenstadt. Einen verkehrlichen Wert hatten diese „hineingerechneten“ Züge nicht, waren sie doch auf der Achse Leipzig - Dresden unterwegs, was sie zu einer relativ sinnlosen Stadtrundfahrt durch den Leipziger Süden und Osten zwang. Einziger Halt war der Tiefbahnhof unter dem Leipziger Hauptbahnhof, und weil dieser (Überraschung!) keine ausreichende Bahnsteiglänge für übliche Fernzüge hat, verkehrte als IC eine verkürzte IC1-Garnitur und als ICE der vergleichsweise kurze ICE-T (der den Tunnelbahnhof dann ganz gut „ausfüllte“). Die steigende Verkehrsnachfrage bei der S-Bahn Mitteldeutschland beförderte diese kuriosen Lückenbüßer zum Fahrplanwechsel 2015/16 endgültig aus dem Tunnel.
Nimmt man zum Vergleich den Werdegang des Projekts zur 2. Stammstrecke in München, kann man daraus die These ableiten das auch hier am Ende nicht alle kalkulierten Leistungen zum Zuge kommen werden. Immerhin hat man sich erspart auch noch irgendwelche imaginären Fernzüge in die Planung hinein zu zaubern.


Fazit und Ausblick

Welche Prognosen könnte man nun noch für die Münchner S-Bahn wagen? Das ist wirklich schwer, denn der Blick zurück zeigt eindrücklich wie weit sich so manche Einschätzungen für die Zukunft von den realen Entwicklungen unterschieden. Selbst die eigentlich unumstößliche These des immerwährenden Wachstums der Fahrgastzahlen bei der Münchner S-Bahn könnte irgendwann einmal ihre sichere Garantie verlieren. Die Erfahrungen der Corona-Krise zeigte eindrücklich, wie schnell sich nicht nur die Rahmenbedingungen ändern können (selbst wenn sie nur temporär wirkten), sondern welche nachhaltigen Verhaltensänderungen (z.B. bei der Mobilität) solche Ereignisse nach sich ziehen können. Das digitale Informationszeitalter wurde bereits im Jahr 1972 beschworen, auch wenn es noch recht undeutlich am Horizont lag. Heute bestimmt es schon den Alltag der meisten Münchner. In wie weit dies die künftigen Alltagsgewohnheiten noch verändern wird, so das möglicherweise die täglichen Reisewege wieder verkürzt oder vermieden werden – wer kann das schon so genau vorhersagen? Wir werden es sehen.

Also steigen wir ein, in den Zug der Zeit und lassen uns befördern: Nach München – durch München – und unter München hindurch.

Auf die nächsten 50 Jahre Münchner S-Bahn!



Stand: 2022